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KAPITEL 7-8

 昵称9683329 2012-04-08

KAPITEL 7 Wi r sitzen in einer Imbissbude an der Sub-way, und ich sehe fasziniert zu, wie Callie ihr offensichtliches Loch im Magen mit einem drei?ig Zentimeter langen Frika-dellen-Sandwich stopft. Ich habe mich immer gefragt, wie sie das macht. Sie isst wie ein Scheunendrescher, und doch nimmt sie nie auch nur ein Pfund zu. Ich grinse und überlege, dass es vielleicht an ihren t?glichen Zehn-Kilometer-Morgenl?ufen liegt. Sie leckt sich schmatzend und mit solcher Hingabe die Finger, dass zwei ?ltere Damen am Nachbartisch missbilligende Blicke in unsere Richtung werfen. Als sie fertig ist, seufzt sie zufrieden, lehnt sich zurück und trinkt durch einen Strohhalm ihre Mountain Dew. Mi r wird bewusst, dass das hier das Wesen von Callie ist. Sie l?sst das Leben nicht einfach vorbeiziehen, sie verschlingt es. Sie schlingt es herunter ohne zu kauen, und sie kriegt nie genug davon. Ich l?chle vor mich hin bei dem Gedan-ken, und sie runzelt die Stirn und schüttelt drohend den Finger in meine Richtung.

Wei?t du, ich hab dich nur zum Essen eingeladen, weil ich dir sagen will, wie sauer ich auf dich bin, Zuckerschn?uzchen. Du hast meine Anrufe nicht beantwortet, nicht einmal meine E-Mails. Das ist nicht akzeptabel, Smoky. Es ist mir v?llig egal, wie beschissen es dir geht.?

Ich wei?, Callie. Und es tut mir Leid. Ich meine das ehrlich. Es tut mir wirklich und aufrichtig Leid.?

Sie starrt mich sekundenlang an, ein intensives Starren. Ich habe gesehen, wie sie den einen oder anderen Kriminellen so angesehen hat, und ich sch?tze, ich habe es verdient. Der Moment vergeht, und dann schenkt sie mir ein strahlendes L?cheln, w?hrend sie abwinkt. ?Entschuldigung angenommen. Und jetzt die eigentliche Frage: Wie geht es dir? Ich meine, wie geht es dir wirklich? Und komm nicht auf die Idee, mich anzulügen.?

Ich senke den Blick, betrachte mein Sandwich und sehe sie dann wieder an. ?Bis heute? Schlecht. Richtig schlecht. Ich hatte Alptr?ume, jede Nacht. Ich hatte Depressionen, und es wurde immer nur schlimmer, nicht besser.?

Du hast daran gedacht, dich umzubringen, stimmt's?? Ich spüre den gleichen Schock, nur nicht ganz so stark, wie in Dr. Hillsteads Zimmer. Hier ist mehr Scham dabei. Callie und ich waren immer enge Freundinnen, und ob ausgesprochen oder nicht, es schwingt eine Art Liebe mit. Doch es ist eine Liebe, die auf St?rke fu?t, nicht darauf, dass wir uns gegenseitig an der Schulter der jeweils anderen ausweinen. Ich habe Angst, dass diese Liebe nachl?sst oder ganz schwindet, wenn Callie mich bemitleiden muss. Trotzdem antworte ich ihr.

Ich hab dran gedacht, ja.?

Sie nickt, und dann schweigt sie. Ihr Blick geht in eine Ferne, die ich nicht sehen kann. Ich habe ein Gefühl von Dej?-vu. Sie sieht aus, wie Dr. Hillstead ausgesehen hat; als würde sie über-legen, welchen Weg sie von hier aus einschlagen soll. ?Smoky, daran ist nichts Schwaches. Es w?re Schw?che, wenn du den Abzug wirklich durchziehen würdest. Weinen, Alptr?ume, Depressionen, Gedanken an Selbstmord, das alles macht dich nicht schwach. Es tut nur weh. Und jeder kann Schmerz emp-finden, selbst Superman.?

Ich sehe sie an, sprachlos. Ich bin so verwirrt, dass mir keine Antwort einf?llt. Das passt überhaupt nicht zu Callie. So etwas h?tte ich nicht von ihr erwartet, und es hat mich überrascht. Sie l?chelt mich freundlich an.

Wei?t du, du musst damit fertig werden, Smoky. Nicht allein für dich, auch für mich.? Sie zieht an ihrem Strohhalm. ?Du und ich, wir sind uns beide sehr ?hnlich. Wir waren immer Siegertypen. Die Dinge liefen immer genauso, wie wir es woll-ten. Wi r sind gut in dem, was wir tun. - Verdammt, wir waren schon immer in allem gut, was wir uns in den Kopf gesetzt hat-ten, oder??

Ich nicke. Mir fehlen immer noch die Worte.

Lass mich dir etwas sagen. Etwas Philosophisches. Merk es dir, weil ich niemand bin, der normalerweise so etwas sagt.? Sie stellt ihren Drink ab. ?Eine Menge Leute malen immer wieder das gleiche, alte Bild. Wir kommen unschuldig und blau?ugig auf die Welt, und dann werden wir mit der Realit?t konfrontiert und stumpfen ab. Nichts ist mehr so gut wie früher, bla, bla, bla.

Ich habe immer geglaubt, dass das ein Haufen Mist ist. Nicht alle werden unschuldig geboren wie bei Norman Rockwell, oder? Frag irgendein beliebiges Kind in Watts. Ich war immer der überzeugung, dass es nicht so sehr darum geht zu lernen, dass das Leben Schei?e ist. Es geht darum zu lernen, dass das Leben wehtun kann. Verstehst du, was ich meine??

Ja.? Ich h?nge gebannt an ihren Lippen.

Die meisten Leute lernen den Schmerz früh kennen. Du und ich - wir hatten bisher Glück. Sehr, sehr viel Glück. Wi r sehen den Schmerz bei anderen, tun, was wir tun, doch es hat uns nie getroffen. Nicht wirklich. Sieh dich an: Du hast die Liebe deines Lebens gefunden, hattest ein wunderbares Kind, warst eine phantastische FBI-Agentin und gleichzeitig eine Frau mit einem raketengleichen Aufstieg. Und ich? Ich habe mich auch nicht schlecht geschlagen.? Sie schüttelt den Kopf. ?Es ist mir gelungen, nicht allzu sehr von mir selbst eingenommen zu sein, aber mir sind die Knaben immer hinterhergelaufen, und ich hatte das Glück, nicht nur gut auszusehen, sondern auch noch was im Kopf zu haben. Und ich bin gut in meiner Arbeit fürs FBI , verdammt gut.?

Das bist du?, stimme ich ihr zu.

Das ist es allerdings auch schon, Zuckerschn?uzchen. Du und ich, wir haben nie eine Trag?die erlebt. Wir sind uns gleich in dieser Hinsicht. Und dann, ganz pl?tzlich, h?ren die Kugeln auf, an dir abzuprallen.? Sie schüttelt den Kopf. ?Von dem Augenblick an, in dem das passiert ist, konnte ich nicht mehr furchtlos sein. Das war vorbei. Ich hatte Angst, richtige Angst, zum ersten Mal in meinem Leben. Zum allerersten Mal. Und seitdem habe ich st?ndig Angst. Weil du besser bist als ich, Smoky. Das warst du schon immer. Und wenn dir so etwas passieren kann, dann kann es verdammt noch mal auch mir pas-sieren.? Sie lehnt sich zurück und legt die H?nde flach auf den Tisch. ?Ende der Ansprache.?

Ich kenne Callie schon ziemlich lange. Ich habe immer gewusst, dass sie über verborgene Tiefen verfügt. Das Geheim-nis dieser manchmal kurz aufblitzenden Tiefen hat für mich immer einen Teil ihres Charmes, ihrer St?rke ausgemacht. Jetzt hat sich der Vorhang für einen Augenblick geteilt. Es ist, als würde sich jemand zum ersten Mal nackt vor dir zeigen. Es ist der gr??tm?gliche Vertrauensbeweis, und ich bin auf eine Weise gerührt, dass meine Knie schwach werden. Ich strecke die Hand aus und ergreife ihre.

Ich werde mein Bestes tun, Callie. Das ist alles, was ich dir versprechen kann. Aber ich verspreche es.? Sie erwidert meinen H?ndedruck, dann zieht sie ihre Hand zurück. Der Vorhang hat sich wieder geschlossen.

Na ja, es w?re nett, wenn du dich beeilen k?nntest, okay? Ich genie?e es, arrogant und unberührbar zu wirken, und du bist schuld daran, dass ich es im Moment nicht kann.?

Ich sehe meine Freundin l?chelnd an. Dr. Hillstead hat mir gesagt, dass ich stark bin. Doch für mich war immer Callie meine heimliche Heldin, wenn es um St?rke ging. Meine krass daherredende Schutzheilige der Piet?tlosigkeit. Ich schüttele den Kopf. ?Ich bin gleich wieder da?, sage ich. ?Ich muss mal zur Toilette.?

Vergiss nicht, den Deckel runterzuklappen?, sagt sie.

Ich sehe es, als ich die Toilette verlasse, und was ich sehe, l?sst mich stehen bleiben.

Callie hat mich noch nicht bemerkt. Ihre Aufmerksamkeit ist auf etwas in ihrer Hand gerichtet. Ich mache einen Schritt zur Seite, sodass der Eingang den Blick auf mich ein wenig ver-deckt, und sp?he in ihre Richtung.

Callie sieht traurig aus. Nicht einfach nur traurig, sondern verloren.

Ich habe Callie hochmütig, sanft, wütend, rachsüchtig, witzig erlebt, was auch immer, aber niemals traurig. Nie so wie jetzt. Und ich wei? irgendwie, dass es nichts mit mir zu tun hat.

Was auch immer sie in der Hand h?lt, es betrübt meine Hel-din, und das schockiert mich. Ich bin sicher, dass es etwas Pri-vates ist. Callie wird nicht wollen, dass ich sie so sehe. Sie mag vielleicht für alle Welt nur ein Gesicht haben, doch sie entschei-det, welchen Teil davon sie zeigt. Und sie hat beschlossen, mir diesen Teil nicht zu zeigen, was auch immer es ist. Ich gehe zur Toilette zurück. Zu meiner überraschung ist eine der ?lteren Damen da. Sie w?scht sich die H?nde und beobachtet mich im Spiegel. Ich erwidere ihren Blick und kaue an meinem Dau-mennagel, w?hrend ich nachdenke. Entscheide dich endlich!

Ma'am?, sage ich. ?Würden Sie mir vielleicht einen Gefal-len tun??

Welchen denn, meine Liebe??, fragt sie ohne Z?gern.

Meine Freundin drau?en...?

Sie meinen die Unh?fliche mit den schrecklichen Essma-nieren?? Schluck. ?Ja, Ma'am.? ?Was ist mit ihr?? Ich z?gere. ?Sie ...ich glaube, sie m?chte im Augenblick für

sich sein. Weil ich hier bin und sie allein am Tisch...Ich...? ?Sie m?chten Ihre Freundin nicht in diesem Moment über-raschen, ist es das??

Ihr sofortiges und vollkommenes Begreifen l?sst mich inne-halten. Ich starre sie an. Stereotypen, denke ich erneut. So nutz-los. Ich hatte sie für eine kleinkarierte, selbstgerechte alte Frau gehalten. Jetzt begegnen mir freundliche Augen, Weisheit und ein feines Gespür für das L?cherliche. ?Ja, Ma'am?, sage ich leise. ?Sie...sie ist immer so krass, aber sie hat das gr??te Herz, das ich kenne.?

Die Augen der Frau werden weich, und sie l?chelt ein wun-dersch?nes L?cheln. ?Viele gro?e Menschen haben mit den H?nden gegessen, meine Liebe. überlassen Sie alles mir. War-ten Sie drei?ig Sekunden, und dann kommen Sie zum Tisch.?

Ich danke Ihnen?, sage ich. Ich meine es aufrichtig, und sie wei? es.

Sie verl?sst die Toilette ohne ein weiteres Wort. Ich warte ein wenig l?nger als drei?ig Sekunden, bevor ich ihr folge. Ich sp?he um die Ecke und hebe die Augenbrauen. Die Frau steht vor unserem Tisch und redet mit erhobenem Zeigefinger auf Callie ein. Ich gehe zu ihnen.

Manche Leute essen gern ungest?rt?, h?re ich die fremde Frau sagen. Ihr Ton ist ma?regelnd und scharf wie eine Waffe, wie eine olympische Disziplin. Die Sorte Ton, die einen eher besch?mt als wütend macht. Meine Mo m war Weltklasse in dieser Disziplin.

Callie blickt die Frau finster an. Ich kann die Sturmwolken sehen, die sich in ihr zusammenbrauen, und ich eile zu unserem Tisch. Die Frau erweist mir schlie?lich einen Gefallen; besser, wenn ich nicht warte, bis es zu einer heftigen Auseinanderset-zung kommt.

Callie...?, sage ich und lege ihr warnend die Hand auf die Schulter. ?Wir sollten gehen.?

Sie starrt die Frau noch finsterer an, doch die Frau wirkt ungef?hr so eingeschüchtert wie ein auf dem Rücken schla-fender Hund an einem sonnigen Fleck.

Callie?, sage ich erneut, dr?ngender diesmal.

Sie sieht mich an, nickt, steht auf und setzt ihre Sonnenbrille mit einer arroganten Bewegung auf, die mich mit Bewunderung erfüllt. ?9 - 9 - 10?, denke ich. Eine nahezu perfekte Wertung. Die Olympiade der Eisk?niginnen ist dieses Jahr ein harter Wettkampf, und die Menge tobt...

Ich kann gar nicht schnell genug weg von hier?, meint sie herablassend. Sie schnappt ihre Handtasche und neigt den Kopf in Richtung der Frau. ?Guten Tag?, sagt sie. ?Auf die Knie!?, bedeutet ihr Tonfall.

Ich schiebe sie hastig nach drau?en und sehe über die Schul-ter noch einmal zu der fremden Frau hin. Sie zwinkert mir zu.

Wieder einmal f?llt mir auf, wie unglaublich freundlich Fremde manchmal sein k?nnen.

Die Rückfahrt ist unterhaltsam. Callie giftet leise vor sich hin. Ich nicke und versichere ihr an den richtigen Stellen meine Zustimmung, w?hrend sie über ?alte Schachteln? und ?runz-lige, vertrocknete Leute? und ?aufgeblasene Mumien? schimpft. W?hrenddessen sind meine Gedanken erfüllt von jenem trau-rigen Blick, der so fremd auf dem Gesicht meiner Freundin wirkt.

Wi r erreichen den Parkplatz und halten in der N?he meines Wagens. Ich habe beschlossen, dass es genug ist für heute. Ich besuche den stellvertretenden Direktor ein anderes Mal.

Danke, Callie. Sag Alan, dass ich irgendwann in n?chster Zeit noch mal vorbeikomme. Auch wenn es nur darum geht, >Hallo< zu sagen.?

Sie droht mir mit dem Finger. ?Das werde ich ihm ausrich-ten, Zuckerschn?uzchen. Aber wag es blo? nicht mehr, unsere Anrufe zu ignorieren. Du hast in jener Nacht nicht jeden ver-loren, der dich liebt. Und du hast Freunde, auch au?erhalb der Arbeit. Vergiss das nicht!?

Sie f?hrt mit quietschenden Reifen los, bevor ich antworten kann, und sichert sich so das letzte Wort. Das ist typisch Callie, und ich bin froh, dass ich ihr Opfer gewesen bin.

Ich steige in meinen Wagen, und mir wird bewusst, dass ich Recht gehabt habe letzte Nacht. Heute war der entscheidende Tag. Und ich fahre nicht nach Hause, um mir das Gehirn aus dem Kopf zu blasen. Wie sollte ich das auch? Ich schaffe es ja nicht mal, meine Pistole in die Hand zu nehmen.



KAPITEL 8 Ich habe eine furchtbare Nacht, eine Art Hitpa-rade schlimmer Tr?ume. Joseph Sands ist da mit seinem D?mo-nenanzug, w?hrend Matt mich mit blutverschmiertem Mund anl?chelt. Dann sehe ich Callie im Subway-Imbiss. Sie blickt traurig von ihrem Blatt Papier auf, zieht die Pistole und schie?t der fremden Frau in den Kopf. Dann wendet sie sich wieder ihrer Limonade zu und saugt am Strohhalm. Doch ihre Lippen sind zu rot und zu voll. Sie bemerkt meinen Blick und zwinkert mir zu wie eine Leiche, die ein einzelnes Auge schlie?t.

Ich wache zitternd auf und bemerke, dass mein Telefon l?u-tet. Ich sehe auf die Uhr - es ist fünf Uhr morgens. Wer ruft um diese Stunde an? Ich habe keine Anrufe mehr um diese Zeit bekommen, seit ich nicht mehr arbeite.

Der Traum schwebt noch immer durch meinen Kopf, doch ich schiebe die Bilder von mir. Ich warte noch einen Moment, bis das Zittern verebbt ist, dann nehme ich den H?rer ab.

Hallo??

Schweigen am anderen Ende. Dann Callies Stimme. ?Hi, Zuckerschn?uzchen. Tut mir Leid, dass ich dich wecke, aber... wir haben hier was, das dich betrifft.?

Was? Was ist passiert?? Sie schweigt eine ganze Minute, und allm?hlich werde ich ungeduldig. Immer noch laufen kleine Schauer durch meinen K?rper, w?hrend ich den H?rer halte. ?Verdammt, Callie! Rede mit mir!?

Sie seufzt. ?Erinnerst du dich an Annie King??

Ob ich mich an sie erinnere??, frage ich ungl?ubig. ?Ja, ich erinnere mich an sie. Sie ist eine meiner besten Freundinnen. Sie ist vor ungef?hr fünf Jahren nach San Francisco umgezo-gen. Wi r telefonieren noch alle sechs Monate oder so. Ich bin die Patentante ihrer Tochter. Ich erinnere mich also sehr gut an Annie. Warum? Was ist mit ihr??

Callie schweigt erneut. ?Verdammt?, h?re ich sie flüstern. Es klingt, als h?tte sie soeben einen Schlag in den Magen bekom-men. ?Ich wusste nicht, dass ihr Freundinnen wart. Ich dachte, sie w?re nur eine Bekannte von dir.?

Ich spüre, wie Angst in mir aufsteigt. Angst - und Gewiss-heit. Ich wei?, was passiert ist; oder wenigstens meine ich, es zu wissen. Doch ich muss es aus Callies Mund h?ren, bevor ich es glauben kann. ?Was ist passiert??, frage ich.

Ein langer, resignierender Seufzer. Dann: ?Sie ist tot, Smoky.

Ermordet, in ihrer Wohnung. Ihre Tochter lebt, aber sie ist kata-

tonisch.?

Meine Hand ist durch den Schock gefühllos geworden, und

fast lasse ich den H?rer fallen. ?Wo bist du jetzt, Callie?? Meine Stimme klingt fremd in meinen Ohren.

Im Büro. Wir machen uns fertig, um zum Tatort zu fliegen. Wi r haben einen Privatjet, der in eineinhalb Stunden startet.?

Ich spüre etwas durch meinen Schock hindurch, eine Schwere auf Callies Seite der Leitung. Ich spüre, dass es noch etwas gibt, das sie mir bisher nicht gesagt hat.

Was ist, Callie? Was h?ltst du vor mir zurück??

Ein weiteres Z?gern, ein weiterer Seufzer. ?Der M?rder hat

eine Nachricht für dich hinterlassen, Zuckerschn?uzchen.?

Ich sitze da und schweige. Lasse die Worte auf mich wirken. ?Ich komm zu dir ins Büro?, sage ich schlie?lich und lege auf, bevor Callie antworten kann.

Ich setze mich auf die Bettkante und verharre dort. Ich lege das Gesicht in die H?nde und versuche zu weinen, doch meine Augen bleiben trocken. Irgendwie tut es auf diese Weise mehr weh.

Es ist gerade erst sechs Uhr, als ich im Büro eintreffe. Der frühe Morgen ist die beste Zeit, um durch Los Angeles zu fahren. Die einzige Tageszeit, zu der die Highways nicht verstopft sind. Die meisten Leute, die jetzt unterwegs sind, führen nichts Gutes im Schilde oder sind auf dem Weg zu nichts Gutem. Ich kenne diese frühen Morgenstunden gut. Auf dem Weg zu blutigen Tatorten bin ich zahllose Male durch den Nebel und das graue Licht der anbre-chenden D?mmerung gefahren, genau wie jetzt. Auf dem ganzen Weg hierher habe ich an nichts anderes gedacht als an Annie.

Annie und ich haben uns in der Highschool kennen gelernt, als wir beide fünfzehn waren. Sie war Cheerleader und ich ein unbekümmerter Wildfang, der Haschisch rauchte und die Geschwindigkeit liebte. Nach den Gesetzen der Highschool waren unsere Wege nicht dazu bestimmt, sich zu kreuzen. Das Schicksal griff jedoch ein. Zumindest habe ich immer geglaubt, dass es das Schicksal war.

Meine Periode kam mitten im Mathematikunterricht, und ich musste mich melden. Ich packte meine Tasche und stürzte aus der Tür in Richtung Toilette. Ich war hochrot im Gesicht, w?hrend ich durch den Korridor rannte und hoffte, dass mich niemand bemerkte. Ich bekam meine Periode erst seit acht Monaten, und die ganze Angelegenheit war mir noch immer jedes Mal unertr?glich peinlich.

Ich sp?hte in die Toilette und sah erleichtert, dass sie ver-lassen war. Ich betrat eine der Kabinen und wollte mich gerade um mein Problem kümmern, als mich ein Schniefen erstarren lie?. Die Binde in der Hand, hielt ich den Atem an und lauschte. Das Schniefen wiederholte sich, nur dass es diesmal in ein leises Schluchzen überging. Irgendjemand weinte zwei Kabinen weiter.

Ich habe schon immer eine Schw?che für alles gehabt, was leidet. Als ich jünger war, überlegte ich sogar, Tier?rztin zu wer-den. Wann immer ich einem verletzten Vogel, einem Hund, einer Katze oder irgendetwas Lebendigem begegnete, ob es nun kroch, lief oder flog, so nahm ich es stets mit nach Hause. Die meis-ten Tiere, die ich mitgebracht hatte, schafften es nicht. Manche aber überlebten und wurden gesund, und diese wenigen Siege reichten aus, um mich zu weiteren Einsammeiaktionen zu moti-vieren. Meine Eltern fanden es zuerst sü?. Nach dem zigsten Besuch beim Notfalltierarzt wich ihr Entzücken allerdings dem Arger. Doch auch wenn sie sich ?rgerten, sie haben mich nie von meinen Mutter-Theresa-artigen Bemühungen abgehalten.

Als ich ?lter wurde, stellte ich fest, dass sich meine Anteil-nahme auch auf Menschen erstreckte. Wenn jemand verprügelt wurde, mischte ich mich zwar nicht ein und rettete ihn, doch hinterher konnte ich nicht anders - ich musste hingehen und sehen, wie es ihm ging. Ich hatte immer einen kleinen Erste-Hilfe-Beutel in der Tasche und verteilte im achten und neunten Schuljahr unz?hlige Pflaster und Verb?nde. Ich war kein Stück verlegen wegen dieses Bedürfnisses. Es war schon eigenartig: Ich sch?mte mich zu Tode, weil ich wegen meiner Periode mit-ten im Unterricht auf die Toilette musste, doch kein Spott der Welt, nicht einmal der Spitzname ?Schwester Smoky?, konnte mich davon abhalten, anderen zu helfen. Nicht im Geringsten.

Ich wei?, dass es dieser Charakterzug ist, der mich letztlich zum FBI geführt hat. Die Entscheidung, nach der Ursache für den Schmerz zu suchen und die Kriminellen zu jagen, die es genie?en, ihn anderen zuzufügen. Ich wei? auch, dass das, was ich im Lauf der Jahre gesehen habe, diese Einstellung etwas ver-?ndert hat. Ich wurde vorsichtiger mit meiner Fürsorglichkeit. Mir blieb gar nichts anderes übrig. Mein Team und ich wurden zu dem, was früher mein Erste-Hilfe-Beutel war, und aus den Verb?nden wurden Handschellen und eine Gef?ngniszelle.

Und weil ich so war, legte ich, als ich jemanden in der Toi-lette weinen h?rte, meine Binde hastig und fast nebenbei ein, s?mtliche Peinlichkeit vergessend, zog meine Jeans wieder hoch und stürzte aus meiner Kabine. Vor der Toilettentür, hinter der das Schluchzen zu vernehmen war, blieb ich stehen.

Ah, hallo? Alles in Ordnung da drin?? Das Schluchzen verstummte, auch wenn immer noch ein lei-

ses Schniefen zu h?ren war. ?Geh weg. Lass mich allein.? Ich stand für eine Sekunde vor der Tür und überlegte, was

ich tun sollte. ?Hast du dich verletzt?? ?Nein. Lass mich einfach nur allein!? Da es offenbar keine physische Verletzung war, die drin-

gend behandelt werden musste, beschloss ich, dem Wunsch der Unbekannten hinter der Tür zu entsprechen und zu gehen.

Doch irgendetwas lie? mich innehalten. Das Schicksal. Ich beugte mich vorsichtig vor. ?Ah, h?r mal... kann ich dir irgend-wie helfen??

Die Stimme klang verzweifelt, als sie endlich antwortete. ?Nie-mand kann mir helfen.? Schweigen, gefolgt von einem weiteren dieser furchtbaren, herzergreifenden Schluchzer. Niemand kann so weinen wie ein fünfzehnj?hriges M?dchen. Niemand. Eine Fünfzehnj?hrige weint aus vollem Herzen, h?lt nichts zurück, als w?re es das Ende von allem.

Komm schon. So schlimm kann es gar nicht sein.?

Ich h?rte ein schlurfendes Ger?usch, dann flog die Tür der Kabine krachend auf. Vor mir stand ein blondes, sehr hübsches M?dchen mit ger?tetem Gesicht. Ich erkannte sie sofort und wünschte, ich w?re ihrem Rat gefolgt und gegangen, als sie mich bat zu verschwinden. Annie King, der Cheerleader. Eines von diesen M?dchen. Sie wissen schon, eines von diesen versnob-ten, perfekten M?dchen, die ihre Sch?nheit und ihre makellosen K?rper einsetzen, um die Highschool wie ihr K?nigreich zu regieren. Ich konnte nicht anders, genau so dachte ich damals. Ich hatte sie in eine Schublade gestopft und fest eingeordnet, auf die gleiche Weise, wie ich es hasste, von anderen eingeordnet zu werden. Und sie war wütend.

Was wei?t du denn schon darüber?? Ihre Stimme bebte vor Zorn, und sie war gegen mich gerichtet, frontal.

Ich starrte sie an, sprachlos und verdutzt, zu erstaunt, um zurück zu giften. Dann zerbrach ihre Maske, und ihre Wut ver-puffte schneller, als sie gekommen war. Tr?nen rannen ihr über das Gesicht. ?Er hat allen mein H?schen gezeigt! Warum hat er das gemacht, nach allem, was er zu mir gesagt hat??

H?? Wer - was ist mit deinem H?schen??

Manchmal - selbst auf der Highschool - ist es am einfachs-ten, mit einem Fremden zu reden. Und sie redete mit mir, wir beide ganz allein auf der M?dchentoilette. Der Quarterback des Footballteams, ein gewisser David Rayborn, ging seit fast sechs Monaten mit ihr. Er war attraktiv, klug und schien sich, wirklich etwas aus ihr zu machen. Er hatte sie seit Wochen bedr?ngt, ?es? endlich mit ihm zu tun, und sie hatte seinem Dr?ngen wider-standen. Aber er hatte so aufrichtig gewirkt und so z?rtlich, dass sie vor ein paar Tagen doch nachgegeben hatte. Er war sanft gewesen und vorsichtig und liebevoll, und als es vorbei gewesen war, hatte er sie in den Armen gehalten und sie gefragt, ob er ihr H?schen behalten dürfte, als Erinnerung an dieses erste Mal. Er sagte, es würde ein Geheimnis zwischen ihnen beiden sein, etwas, das nur sie ganz allein miteinander teilten. Ein wenig unanst?ndig, aber auch nett. Irgendwie romantisch. Wenn ich jetzt als Erwachsene daran zurückdenke, kommt es mir t?richt vor, es so zu sehen. Doch wenn man fünfzehn ist...

Heute bin ich nach dem Training vom Platz gegangen, und alle waren da. Die Jungs vom Team. David war bei ihnen, und alle zeigen auf mich und johlen und machen gemeine Gesichter. Und dann hat er es getan.? Sie verlor erneut die Fassung, und ich zuckte zusammen, weil mir klar war, wie es weiterging. ?Er hat es in die H?he gehalten. Mein H?schen. Wie eine Troph?e. Und dann hat er mich angegrinst, gezwinkert und gesagt, dass es das beste Stück w?re, das er bis jetzt in seiner Sammlung h?tte.?

Und dann fing dieser Cheerleader wieder an zu weinen, nur, dass sie jetzt vollkommen in Tr?nen aufgel?st schien, im wahrsten Sinne des Wortes. Ihre Knie gaben nach, und sie fiel gegen mich und weinte und weinte, als w?re ihr Herz gebrochen und würde niemals wieder heilen. Ich z?gerte einen Moment (nur einen Moment) und schlang die Arme um sie und hielt sie, w?hrend sie an meiner Schulter schluchzte. Dort in jener Toilette hielt ich diese Fremde an mich gedrückt und flüsterte ihr beruhigend in das Haar und sagte zu ihr, dass bestimmt alles wieder gut werden würde.

Nach einigen Minuten erstarben ihre Schluchzer nach und nach. Sie l?ste sich von mir und wischte sich über das Gesicht.

Sie konnte mir nicht in die Augen sehen, und ich erkannte, dass ihr die Sache ein wenig peinlich war.

Hey, ich hab eine Idee?, sagte ich. Es war eine Entschei-dung aus dem Bauch heraus, unerkl?rlich, doch fraglos richtig. ?Komm, wir verschwinden von hier. Wir machen für den Rest des Tages blau.?

Sie sah mich blinzelnd an. ?Blaumachen?? Ich nickte grinsend. ?Genau. Nur für heute, nur für einen Tag. Ich sch?tze, du hast es verdient, oder??

Vermutlich kam ihre Entscheidung genauso pl?tzlich und aus dem Bauch heraus wie meine Frage an sie. Schlie?lich kannte sie damals ja nicht mal meinen Namen. Sie l?chelte zurück, ein verzagtes L?cheln.

Okay.?

Und so lernten wir uns kennen. Sie rauchte an jenem Tag ihren ersten Joint (zu dem ich sie überredete), und etwa eine Woche sp?ter h?rte sie bei den Cheerleadern auf.

Ich würde ja gern berichten, dass David Rayborn seine gerechte Strafe bekam, doch so war es nicht. Trotz seines Rufes als Arsch-loch fielen weiterhin M?dchen auf ihn herein, und er sammelte weiter ihre H?schen als Troph?en. Er wurde sp?ter Star-Quar-terback in seiner College-Mannschaft und spielte sogar einige Saisons als Zweitbesetzung in einem Footballteam der National-mannschaft. Man k?nnte sagen, das sei der Beweis dafür, dass es keine Gerechtigkeit gibt auf der Welt; man k?nnte allerdings auch sagen, dass er Annie und mich zusammengebracht hat - eine Freundschaft, die mir so viel gab und so viel bedeutete, dass ich ihm fast verziehen h?tte für das, was er getan hat.

Annie und ich wurden zu einer unzertrennlichen Einheit, wie dies nur bei Soldaten im Kampf und bei Teenagern in der Schule der Fall ist. Wi r verbrachten unsere gesamte Freizeit zusammen. Sie beschwor mich, mit dem Haschischrauchen aufzuh?ren, und ich folgte ihrem Ratschlag, weil meine Noten schlechter geworden waren. Ich brachte sie dazu, sich wieder mit Jungs zu verabreden. Sie war für mich da, als mein Hund Buster, der mich seit meinem fünften Lebensjahr begleitete, eingeschl?-fert werden musste. Ich war für sie da, als ihre Gro?mutter starb. Wir lernten gemeinsam Auto fahren, gerieten gemeinsam in die verschiedensten Klemmen und befreiten uns gemeinsam daraus, wuchsen auf und wurden zu Frauen.

Annie und ich verband eine der intimsten Arten von Bezie-hung, die zwei Menschen haben k?nnen. Eine Freundschaft, w?hrend man vom Kind zum Erwachsenen reift. Das sind Erfahrungen und Erinnerungen, die einen das ganze Leben hindurch begleiten, bis ans Grab.

Was danach geschah, passiert immer wieder. Wi r machten unseren Abschluss an der Highschool. Ich war damals bereits mit Matt zusammen. Annie hatte einen jungen Mann kennen gelernt und beschlossen, mit ihm durch das Land zu ziehen, bevor sie aufs College ging. Ich wartete nicht, sondern ging direkt zur UCLA. Wir taten, was alle in unserer Situation tun: Wir schworen uns, zweimal in der Woche miteinander zu tele-fonieren und unser Leben lang in Verbindung zu bleiben. Und dann taten wir, was alle tun, und wurden von unseren eigenen Leben so vollst?ndig in Beschlag genommen, dass wir fast ein Jahr lang nicht mehr miteinander sprachen.

Eines Tages kam ich aus der Vorlesung... und da stand sie. Sie sah wild aus und wundersch?n, und ich empfand Freude und Schmerz und einen sehnsüchtigen Stich, der mich durch-zuckte wie ein Akkord von einer Gibson-Gitarre.

Wie geht's denn so, College-Girl??, fragte sie mich mit ver-schmitztem L?cheln. Statt ihr zu antworten, fiel ich ihr in die Arme und hielt sie eine Ewigkeit an mich gedrückt.

Wi r gingen zusammen essen, und sie erz?hlte mir von ihren Abenteuern. Sie waren fast ohne Geld durch alle fünfzig Staa-ten gefahren, hatten eine Menge gesehen und erlebt und so viel Sex an so vielen unterschiedlichen Orten gehabt, dass es für den Rest des Lebens reichte. Sie l?chelte geheimnisvoll, und dann legte sie die Hand auf den Tisch.

Sieh mal?, sagte sie.

Ich sah hin, bemerkte den Verlobungsring und stie? einen überraschten Ruf aus, wie es von mir erwartet wurde, und dann

kicherten wir beide und redeten über die Zukunft und über ihre
Hochzeitspl?ne. Es war fast wie damals an der Highschool.

Ich war ihre Brautjungfer, und sie war meine. Sie zog mit Robert nach San Francisco, und Matt und ich blieben in Los Angeles. Die Dinge ver?nderten sich. Trotzdem gelang es uns, alle sechs bis acht Monate miteinander zu telefonieren, und immer wenn wir telefonierten, waren wir wieder zurück an jenem ersten Tag, an dem wir frei und jung und glücklich gewe-sen waren und die Schule geschw?nzt hatten.

Robert erwies sich als unzuverl?ssig und verlie? sie irgend-wann. Einige Jahre sp?ter überprüfte ich ihn in der Hoffnung festzustellen, dass er sich zum Versager entwickelt hatte, dem es schlecht erging. Stattdessen fand ich heraus, dass er bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Ich wei? bis heute nicht, warum Annie mir das nie erz?hlt hat.

Als ich anfing, für das FBI zu arbeiten, und damit meine ich richtig arbeiten, dehnten sich die Zeitspannen zwischen unseren Telefonaten auf ein Jahr aus. Dann auf anderthalb. Ich war ein-verstanden, die Patenschaft für Annies Tochter zu übernehmen, doch ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich das Kind nur ein einziges Mal gesehen habe, und Annie hat meins nie kennen gelernt. Was kann ich sagen? Das Leben ging weiter, wie es das immer tut.

Manche m?gen mich deswegen verurteilen. Es ist mir gleichgültig. Ich wei? nur, dass, wann immer wir miteinander sprachen, ob nun nach sechs Monaten oder nach zwei Jahren, es stets so war, als w?ren wir nie getrennt gewesen.

Vor ungef?hr drei Jahren starb ihr Vater. Ich fuhr sofort hin und blieb l?nger als eine Woche, um ihr zu helfen. Oder es wenigstens zu versuchen. Annie war ?lter geworden und ausge-laugt und voller Schmerz. Ich erinnere mich an die Ironie dieses Anblicks: Ihr Schmerz und ihr Alter hatten sie sch?ner als je zuvor werden lassen. Am Abend nach der Beerdigung, nach-dem sie ihre Tochter zu Bett gebracht hatte, sa?en wir in ihrem Schlafzimmer auf dem Fu?boden, und sie weinte in meinen Armen, w?hrend ich beruhigend in ihr Haar flüsterte. Als Matt starb, h?rte ich nichts von ihr, doch ich wunderte mich nicht deswegen. Annie hatte diesen Tick - sie verab-scheute Nachrichten, ob gedruckt oder im Fernsehen, und ich habe nie angerufen, um es ihr zu erz?hlen. Ich wei? bis heute nicht, warum.

W?hrend meiner Fahrt zum FBI-Büro denke ich an Annie. Ich denke an sie und wundere mich über meine Reaktion auf ihren Tod. Ich bin traurig. Am Boden zerst?rt sogar. Doch es trifft mich nicht so tief, wie es das eigentlich müsste.

Ich bin vor dem Büro angekommen, und in diesem Augen-blick wird mir klar, dass ich jetzt meine gesamte Jugend verloren habe. Die Liebe meiner Jugend und meine Jugendfreundin. Alle sind tot. Vielleicht war der Verlust von Matt und Alexa zu viel für mich. Vielleicht ist das der Grund, warum ich nicht so viel Schmerz empfinde, wie ich meiner Meinung nach wegen Annies Tod empfinden müsste. Vielleicht ist einfach nicht mehr genug Schmerz in mir übrig.

Was zur H?lle haben Sie hier zu suchen, Smoky??

Es ist Special Agent Jones, mein alter Mentor. Nur, dass er inzwischen Assistant Director Jones ist, stellvertretender Direk-tor. Ich bin überrascht, ihn hier anzutreffen. Nicht, dass er nicht engagiert w?re oder z?gern würde, sich die H?nde schmutzig zu machen. - Es ist einfach die Tatsache, dass er nicht hier sein muss. Und er hat sicher genug zu tun. Was ist so dringend an diesem Fall?

Callie hat mich angerufen, Sir. Sie hat mir von Annie King erz?hlt und erw?hnt, dass der T?ter eine Nachricht für mich hinterlassen hat. Ich fliege mit.?

Er schüttelt den Kopf. ?O nein, Smoky, das werden Sie nicht tun. Ganz bestimmt nicht, verdammt noch mal. Abgesehen von der Tatsache, dass sie Ihre Freundin war, was bedeutet, dass Sie diesen Fall sowieso nicht übernehmen k?nnen, sind Sie noch nicht wieder als arbeitstauglich eingestuft worden.?

Callie versucht zu lauschen, und Jones bemerkt es. Er winkt mich zu seinem Wagen und steckt sich eine Zigarette an, w?h-rend wir gehen. Alle sind inzwischen drau?en vor dem Büro und machen sich fertig für die Fahrt zum Privatflugplatz Van Nuys.

Jones nimmt einen tiefen Zug, und ich sehe ihn sehnsüchtig an. Ich habe vergessen, meine Zigaretten mitzunehmen.

K?nnte ich eine von Ihnen haben, Sir??

Er hebt überrascht die Augenbrauen. ?Ich dachte, Sie h?tten aufgeh?rt?? ?Ich hab wieder angefangen.? Er zuckt die Schultern und reicht mir die Packung. Ich

nehme mir eine Zigarette, dann gibt er mir Feuer. Ich nehme
ebenfalls einen sch?nen tiefen Zug. Ah!

H?ren Sie, Smoky. Sie kennen die Regeln. Sie sind lange genug dabei. Ihr Seelenklempner wahrt vollkommene Ver-schwiegenheit über das, was Sie in den Sitzungen mit ihm be-sprechen. Aber er schreibt einmal im Monat einen Bericht, in dem er uns einen überblick darüber gibt, wo Sie seiner Mei -nung nach im Moment stehen.?

Ich nicke. Ich wei?, dass es stimmt. Ich betrachte das nicht als Vertrauensbruch. Es geht nicht um die Privatsph?re oder um Rechte. Es geht darum, ob man mir wieder zutraut, das FBI zu repr?sentieren. Oder eine Waffe in der Hand zu halten.

Gestern habe ich einen Bericht von Dr. Hillstead erhalten. Er schreibt darin, dass Sie noch ein ganzes Stück Weg vor sich haben und noch nicht arbeitsf?hig sind. Punkt. Und jetzt tau-chen Sie hier um sechs Uhr morgens auf und wollen mit zum Tatort einer ermordeten Freundin?? Er schüttelt vehement den

Kopf. ?Wie bereits gesagt: unter gar keinen Umst?nden!?

Ich nehme einen Zug von der Zigarette und drehe sie zwi-schen den Fingern, w?hrend ich ihn mustere und überlege, was ich sagen kann. Mir wird bewusst, dass ich den Grund für sein Hiersein kenne. Er ist wegen mir hier. Weil der M?rder an mich geschrieben hat. Weil er sich Sorgen macht.

H?ren Sie, Sir. Annie King war meine Freundin. Ihre Toch-ter ist noch am Leben. Sie hat keine Familie mehr. Ihr Vater ist tot, und ich bin ihre Patentante. Ich würde sowieso nach San Francisco fliegen. Ich bitte das FBI doch nur um den Gefallen, mich mitzunehmen.?

Bei meinen Worten verschluckt er sich am Rauch und hus-tet. ?Ich bitte Sie! Netter Versuch, aber wen zur H?lle glauben Sie vor sich zu haben, Agent Barrett?? Er richtet den Zeigefin-ger auf mich. ?Ich kenne Sie gut genug, Smoky! Versuchen Sie nicht, mir irgendeinen Mist zu erz?hlen! Ihre Freundin ist tot -was mir übrigens sehr Leid tut -, und Sie wollen dort hin und den Fall selbst übernehmen. Das ist die Wahrheit. Und ich kann es nicht zulassen. Erstens sind Sie pers?nlich in den Fall verwi-ckelt, und das verbietet Ihren Einsatz. Ausdrücklich sogar, so steht es in den Vorschriften. Zweitens sind Sie m?glicherweise selbstmordgef?hrdet, und ich kann nicht zulassen, dass Sie in diesem Zustand einen Verbrechensschauplatz betreten.?

Ich starre ihn mit aufgerissenem Mund an. Als ich ihm ant-worte, sind meine Worte erfüllt von Wut und Scham. ?Herrgott im Himmel, Sir! H?ngt mir vielleicht ein Warnschild am Hals, auf dem steht, dass ich erwogen habe, mich zu erschie?en??

Sein Blick wird weich. ?Nein, kein Schild. Uns allen ist ein-fach nur bewusst, dass jeder von uns daran denken würde, wenn er auch nur die H?lfte von dem durchgemacht h?tte, was Sie durch-machen mussten.? Er wirft seine Zigarette auf das Pflaster und sieht mich nicht an, als er weiterspricht. ?Ich habe selbst schon einmal daran gedacht, mir die Kanone in den Mund zu stecken.?

Wie bei Callie heute Mittag, so bin ich auch jetzt sprachlos. Er bemerkt es und nickt. ?Es stimmt, Smoky. Ich habe einen Partner verloren, vor etwa fünfundzwanzig Jahren, als ich noch beim Los Angeles Police Department, dem LAPD, war. Ich habe ihn verloren, weil ich eine falsche Entscheidung traf. Ich habe uns ohne Rückendeckung in ein Geb?ude geführt, und es ist uns über den Kopf gewachsen. Er hat den Preis bezahlt. Familienmensch, geliebter Ehemann und Vater von drei Kin-dern. Es war meine Schuld, und ich habe fast acht Monate daran gedacht, diese Ungerechtigkeit zu korrigieren.? Er sieht mich an, und in seinem Blick ist keine Spur von Mitgefühl. ?Es ist nicht so, als h?tten Sie ein Schild umh?ngen, Smoky. Es ist so, dass die meisten von uns denken, sie h?tten sich an Ihrer Stelle das Gehirn weggeblasen.?

Das ist es, was AD Jones ausmacht. Kein Smalltalk, kein Herumreden um die Dinge. Und das ist gut so. Man wei? immer, woran man bei ihm ist. Immer.

Ich kann ihm nicht in die Augen sehen. Ich werfe meine halb aufgerauchte Zigarette weg und trete sie mit dem Absatz aus, w?hrend ich meine n?chsten Worte sorgf?ltig überlege. ?Sir, ich wei? Ihre Worte zu sch?tzen. Und Sie haben in fast allen Punkten Recht - bis auf einen.? Ich blicke zu ihm auf. Ich wei?, dass er meine Augen sehen will bei dem, was ich ihm als N?chs-tes sagen werde, damit er die Wahrheit meiner Worte absch?t-zen kann.

Ich habe darüber nachgedacht, Sir. Verdammt lange. Aber heute? Seit heute wei? ich mit Sicherheit, dass ich es nicht tun werde. Und wissen Sie, was mich dazu gebracht hat, meine Mei-nung zu ?ndern?? Ich deute auf mein Team, das wartend auf den Stufen vor dem Geb?ude steht. ?Ich bin hergekommen und habe diese Leute gesehen, zum ersten Mal, seit es passiert ist. Ich bin hergekommen und habe sie gesehen, und sie waren alle da und haben mich akzeptiert. Na ja, die Jury ist noch unentschlos-sen, was James angeht. - Aber der springende Punkt ist, dass sie mich weder bedauert noch mir das Gefühl gegeben haben, ein gebrochenes Wrack zu sein. Ich kann Ihnen hier und jetzt und mit voller überzeugung sagen, dass ich nicht l?nger selbstmord-gef?hrdet bin. Und der Grund dafür ist, dass ich meinen Fu? wieder ins Büro gesetzt habe.?

Er h?rt mir zu. Ich wei? nicht, ob ich ihn überzeugen konnte, doch ich habe seine Aufmerksamkeit. ?H?ren Sie, ich bin noch nicht so weit, dass ich das CASMIRC wieder leiten k?nnte. Ich bin absolut noch nicht so weit, dass ich mich in irgendeine tak-tische Situation begeben k?nnte. Ich bitte nur darum, dass Sie mich den Zeh ins Wasser stecken lassen. Lassen Sie mich mit-fliegen, damit ich mich darum kümmern kann, dass Bonnie ver-sorgt ist. Und lassen Sie mich meine Gedanken zu diesem Fall beitragen, nur ein klein wenig. Callie hat weiterhin die Leitung. Ich werde unbewaffnet sein, und ich verspreche, mich sofort zurückzuziehen, wenn es mir zu viel wird.?

Er steckt die H?nde in die Manteltaschen und mustert mich mit einem langen, strengen Blick. Er studiert mich angestrengt. Wiegt s?mtliche M?glichkeiten ab, jedes Risiko. Als er den Blick abwendet und seufzt, wei? ich, dass ich ihn überzeugt habe.

Ich werde es bereuen, aber meinetwegen. Unsere Abma-chung lautet wie folgt: Sie fliegen hin, holen das Kind und sehen sich um. Sie k?nnen dem Team sagen, was Sie von der Sache halten, jedoch werden Sie die Show nicht leiten. Und sobald Sie sich auch nur ein ganz klein wenig unsicher fühlen, ziehen Sie sich verdammt noch mal zurück. Ich meine es ernst, Smoky. Ich brauche Sie wieder in meiner Abteilung, verstehen Sie mich nicht falsch. Aber ich brauche Sie gesund und fit, und das bedeutet, dass ich Sie nicht unbedingt schon wieder jetzt brauche. Haben Sie mich verstanden??

Ich nicke wie ein Kind oder ein neuer Rekrut, yes Sir, yes Sir, yes Sir. Ich fliege mit, und ich spüre, dass es wichtig ist für mich. Ein Sieg. Er hebt eine Hand, winkt Callie herbei, und als sie bei uns ankommt, sagt er zu ihr, was er zu mir gesagt hat.

Haben Sie verstanden??, fragt er sie streng.

Ja, Sir.?

Er schie?t mir einen letzten Blick zu. ?Das Flugzeug wartet

schon. Machen Sie, dass Sie wegkommen.? Ich gehe mit Callie davon, bevor er seine Meinung ?ndern kann.

Ich würde zu gerne wissen, wie du das angestellt hast, Zuckerschn?uzchen?, murmelt sie. ?Und was mich betrifft, ist es deine Show, es sei denn, du sagst mir etwas anderes.?

Ich antworte nicht. Ich bin zu sehr damit besch?ftigt, mich zu fragen, ob meine Rückkehr ins Team nicht ein schrecklicher Fehler ist.

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